Atemlos durch die (Bieler) Nacht.

Hundert Kilometer laufend zurückzulegen, konnte ich mir nur von rauschbärtigen Spinnern vorstellen. Als ich im Juni 1997 meinen ersten Wettkampf lief, war das der seinerzeit am Tag ausgetragene Marathon in Biel. Zwei Jahre später stand ich dann, glatt rasiert, an der Startlinie zu meinem ersten 100 Km Lauf in Biel, damals noch beim alten Eisstadion.

Dieser Lauf sollte mich die nächsten Jahre in seinen Bann ziehen. Zur endlos langen Distanz, kommt noch erschwerend dazu, dass 22 Uhr gestartet wird. Also entgegen des gängigen Tagesrhythmus. Bei meinem 3. Start konnte ich, bei strömenden Regen, meine Bestzeit von 8:06,26 aufstellen. Im Nachhinein für mich eine unvorstellbare  Zeit.

Verletzungsbedingt gab es dann Unterbrüche oder ich konnte den Lauf nicht beenden. Für die 100 Km brauchte ich immer länger, das aber nicht, weil ich es gemütlicher nehme wollte…

 Vorläufige Höhepunkt war der Hunderter 2011, bei dem auch Olympiasieger Dieter Baumann am Start war. Er allerdings 10 Minuten nach mir im Ziel…

Da Zeiten und Platzierungen nicht mehr zu toppen waren, war nun mein Ziel: 10×100 Km.

An diesem Ziel habe ich mir wortwörtlich die Zähne ausgebissen. Vor 3 Jahre fiel mir eine Zahnprothese beim Biss auf ein Stück Banane heraus. Die Zähne habe ich dann 95 km im Rucksack nach Biel getragen…

Nach verletzungsbedingter Aufgabe im vergangene Jahr habe ich nun in der Vollmondnacht vom 9. auf den 10. Juni ein für mich wichtiges Ziel erreicht.

Optimale Bedingungen, trocken, nicht zu heiss und Vollmond. Auf gehts zur  Nacht der Nächte. Lief anfangs ganz gut. Tolle Stimmung in der Stadt und später in den Dörfern.

Die wenigen steilen Steigungen laufe ich vorsichtshalber langsam oder gehe. Man versucht seinen Rhythmus zu finden, redet nicht. Der Laufsportverein Basel steht mit einem Auto an der Strecke. Aus dem Radio singt Helene Fischer: „Atemlos durch die Nacht“. Gänsehaut, obwohl ich keine Schlager mag.

Ein paar Jungs mit Bier in der Hand rufen übermütig „Tankstelle“. Das ist mir den kleinen Umweg über die Strasse wert. Ich höre sie johlen, als ich nach einem kräftigen Schluck aus dem Glas weiterziehe.

Dass die Beine irgendwann schwer werden, ist vorhersehbar. Aber ich lege schon vor der 50 Km Marke erste Gehpausen ein. Kulminationspunkt Kirchberg nach 56 Km. Dort würde man als Teilstrecke gewertet, wenn man der Versuchung auf einen Platz im warmen Bus nachgibt. Nichts da, weiter auf den berühmt-berüchtigten Ho-Chi Minh Pfad. Dort habe ich mich bei der Verpflegungsstelle mit Armin Käser verabredet. Er, an der Strecke wohnend, ist den Hunderter selber gelaufen, später Daniela auf dem Rad durch die Bieler Nacht begleitet.

Er fragte, was er mir gutes tun kann? Ein Auto in der Nähe, mit dem er mich zurückfahren kann, scherze ich und belasse es bei einem Schluck Burgdorfer Bier.

Raus aus dem Ho Chi Minh, den ich sturzfrei überstanden habe, krame ich meine Kopfhörer aus dem Rucksack. Die Musik soll mich von den immer längeren Gehpausen abhalten. „Gefährlich ist wer Schmerzen kennt, vom Feuer das den Geist verbrennt“, schreit mir Till Lindemann in die Ohren. Doch das Feuer in mir lodert nur. Kann zwischen den Gehpausen nur noch gelegentlich joggen.

So werden die letzten knapp 20 Km der Aare entlang nach Biel zur Ewigkeit. Aber wo ist das Problem? In welcher Zeit ich ankomme, interessiert niemanden, Bestzeiten sind Vergangenheit. Es ist doch Luxus, nach einer durchlaufenen Vollmondnacht eine prächtigen Tag erwachen zu erleben. Singende Vögel, duftendes Heu, traumhaftes Morgenlicht.

Büren an der Aare, 12 Km noch bis ins Ziel. Vorbei an gedeckten Frühstückstischen, letzter Punkt der offiziellen Fotografen. Für mich gilt es, die letzten Kräfte zu mobilisieren, die letzten Trümpfe aus dem Ärmel zu ziehen.

Speedway at Nazareth„- Runners High in Überdosis. Weit vor mir Laufende drehen sich nach mir um, so laut schreie ich schon beim ersten Geigenton.

Noch 3 Km, Telegraph Road. Ich gehe nicht mehr, ich laufe nicht, ICH FLIEGE!

Letzter Stopp für das wohl beliebteste Fotomotiv in Biel.

10×100 Km Biel geschafft! Überglücklich!

Die Bieler Lauftage begleiten mich seit 20 Jahren. Das Ziel habe ich 10 Mal erreicht. Es war immer etwas Besonderes. Nach so einem Zieleinlauf schwebt man tagelang auf einer Wolke, unabhängig von der Endzeit. Gefühle, die ich in meinem Leben durch nichts anderes erlebt habe. Eine Droge ohne Kater, Absaits der Komfortzone. Das wird bleiben.

 

Biel

Man kann eine Sache auch Tod reiten. Ich bin dabei, dies zu tun. Denn auch dieses Jahr will ich wieder in Biel starten.

Dabei weiß ich, dass es keinerlei Steigerungspotential mehr gibt. Weder mit einer Bestzeit (vor 11 Jahren), noch eines größeren emotionalen Erlebnisses als vergangenes Jahr, als ich mich, zu meiner eigenen Überraschung vor einem ehemaligen Olympiasieger platzieren konnte.

Dennoch starte ich. Um ein Ziel zu erreichen. Vielleicht ein Lebensziel. Zehnmal Biel sollen es sein. Und wenn ich Biel sage, meine ich die 100 Km. Sollte ich auch dieses Mal, mit Hilfe meines treuen Freundes und Begleiter Jürg, ins Ziel kommen, wäre es Finish Nr. 8, bei der 12. Teilnahme. Die beiden Marathonstarts nicht eingerechnet.

Klar ich werde unterwegs jammern, fluchen, schimpfen, hoffentlich das Ziel erreichen und dann die Überdosis Endorphine genießen…